Wie kann Nikotinabhängigkeit weltweit gemessen werden?
Nikotinabhängigkeit messen und verstehen
In vielen Ländern der Erde ist Tabaksucht ein gravierendes Problem. Aber nur in vergleichsweise wenigen davon ist es tatsächlich der Konsum industriell hergestellter Zigaretten, der den Gesundheitssystemen am meisten Sorgen bereitet. Vielmehr geht es in der südlichen Hemisphäre (also den Ländern, die wir mit einem soliden Rest an Kolonialbewusstsein „Dritte Welt“, „Entwicklungsländer“ oder „Schwellenländer“ nennen) um Wasserpfeifen, Kautabak und selbst Gedrehte. Diese sind alle ebenfalls toxisch, führen aber zu gravierend anderen Abhängigkeitsmustern als Tabakzigaretten.
Drei Wissenschaftlerinnen vom Institute for Global Tobacco Control in Baltimore (USA) sind nun der Frage nachgegangen, ob sich herkömmliche Messskalen für Nikotinabhängigkeit auch auf diese Tabakprodukte und Konsumgewohnheiten übertragen lassen. Hierfür haben sie 229 weltweit publizierte Artikel analysiert und ausgewertet. Diese beschäftigten sich mit vier Themenbereichen: zur Tabakabhängigkeit, zur Messbarkeit dieser Abhängigkeit, zur Abhängigkeit von Tabakprodukten, die keine Zigaretten sind und den entsprechenden Statistiken in Ländern mit geringem oder mittlerem Einkommen, den sogenannten LMIC Ländern.
Ihre Analyse hat 14 verschiedene Instrumente herausgefiltert, mit denen Nikotinabhängigkeit gegenwärtig beschrieben wird, wobei diese sich fast ausschließlich auf Zigaretten konzentrieren und nur sehr selten Daten aus LMIC-Ländern berücksichtigen. Das ist erschreckend. Denn was sich nur wenige Menschen vor Augen führen: Fast 80% der etwa einen Milliarde Raucher weltweit leben in LMIC-Ländern. Demzufolge sind dort auch die Konsequenzen der Nikotinabhängigkeit am gravierendsten, vor allem da sie oft mit einer ungenügenden medizinischen Versorgung einher gehen. Aufgrund der sozialen Strukturen verarmt mit dem tabakinduzierten Tod eines Familienmitgliedes oft die ganze Familie. Für die Schwellen- oder Entwicklungsländer bedeutet der Tabakkonsum einen massiven Kostenfaktor innerhalb instabiler Gesundheitssysteme und eine riesige Barrikade für die wirtschaftliche Entwicklung.
Um ein wirkliches, globales Verständnis für Nikotinabhängigkeit entwickeln zu können, müssen Instrumente vorhanden sein, die auf alle sozialen, kulturellen Kontexte und Einkommensklassen sowie sämtliche Nikotin- und Tabak verarbeitenden Produkte anwendbar sind. Maßnahmen zur Reduzierung von Nikotinsucht können nur dann effektiv entwickelt und eingesetzt werden, wenn sie auf alle spezifischen Verhaltensmuster und sozialen Zusammenhänge Rücksicht nehmen, die zum Konsum führen. Anders kann nach Meinung der Autorinnen die globale ‚Tabak-Epidemie‘ nicht in den Griff zu kriegen sein.
Die Tatsache, dass bisher so wenig Augenmerk auf die Nutzung von Nikotin in anderer Form als Zigaretten gelegt wurde, lässt sich auf deren Konzentration in LMIC Ländern erklären, in denen Anti-Tabak Kampagnen und Aufklärungsarbeit zur Tabakabhängigkeit eine deutlich untergeordnete Rolle spielen. Stattdessen ist etwa in Ägypten, Vietnam, Russland und der Ukraine die Wasserpfeife (auch Shisha, Hookah, Calean oder Narghile genannt) häufig das Tabak-Konsummittel der Wahl. In Bangladesch nutzen 27% der Einwohner verschiedene rauchfreie Tabakprodukte, vor allem Kautabak, weitere 11% die handgerollten Bidis; in Indien liegt die Verteilung bei 26% beziehungsweise 9%. In Pakistan nutzen 10% Tabakprodukte, die keine Zigaretten sind, wie etwa Wasserpfeife und verschiedenen Kautabake (ghutka, paan and naswar). Und dies sind nur einige Beispiele; die Liste könnte unendlich fortgeführt werden.
Das Problem dabei: Es gibt so gut wie keine Studien dazu, warum diese alternativen, aber ebenso gesundheitsschädigenden Tabakprodukte konsumiert werden, welche gesellschaftlichen Werte mit ihnen verknüpft sind und was für die Konsumenten dagegen spricht, mit dem Konsum aufzuhören und etwa auf eCigarettes umzusteigen.
Die Autorinnen machen in diesem Zusammenhang auf einige interessante Differenzierungen im Hinblick auf den Begriff der „Abhängigkeit“ von Nicht-Zigaretten-Tabakprodukten aufmerksam. Ein Produkt nur zu nutzen (egal wie schädlich es ist), ist noch keine Abhängigkeit. Diese tritt erst ein, wenn der Konsum als dominierendes Bedürfnis wahrgenommen wird, das andere Bedürfnisse (etwa den Wunsch, aufzuhören) verdrängt. Dabei ist erst einmal irrelevant, ob dieser Mechanismus psychologisch, physisch oder beides ist. Auch die Abhängigkeit selbst ist graduell und muss auf einer Skala von ausgeprägter Sucht zu minimaler Abhängigkeit eingeordnet werden. Ob der Konsument sich selbst als abhängig wahrnimmt und in welchem Maße ist wiederum gebunden an viele Filtersysteme, etwa wie das soziale Umfeld den Konsum bewertet, inwiefern er durch die Regierung reglementiert ist, wie leicht Produkte zu bekommen sind, welche Erwartungen und Rituale damit verbunden sind und wie er physisch erfahren wird.
Erst, wenn diese Parameter verstanden werden, kann eine erfolgreiche Kommunikation mit den Konsumenten stattfinden, die in der erfolgreichen Bekämpfung von Tabakkonsum außerhalb des Zigarettenmarktes münden könnte. Dabei muss immer hinterfragt werden, ob vorhandene Untersuchungen zur Abhängigkeit bei Tabakkonsum via Zigarette auch auf diese alternativen Tabakprodukte übertragbar ist.
Die gängigen Modelle zur Erhebung von Nikotinabhängigkeit, die blumige, natürlich immer englische Namen tragen wie FTQ/FTND/mFTQ, Modified Reasons for Smoking Scale (MRSS), Nicotine Dependence Syndrome Scale (NDSS), Autonomy Over Smoking Scale (AUTOS) oder Hooked on Nicotine Checklist (HONC), können aufgrund ihrer kulturellen Voreingenommenheit keine Basis für ein globales Verständnis von Tabaksucht sein und greifen vor allem in asiatischen, afrikanischen und arabischen Kulturkreisen nicht oder nicht vollständig. So verpuffen etwa Fragen zur Scham in der Öffentlichkeit in China, weil es dort noch sehr wenige Einschränkungen zum Rauchen an öffentlichen Plätzen gibt (was sich allerdings gerade ändert).
Um zu verstehen, warum dieses Vakuum an Untersuchungen zur Abhängigkeit von alternativen Tabakprodukten so problematisch ist, kann man sich Umfragen unter Rauchern in Europa oder Nordamerika vor Augen führen, die von der Zigarette auf E-Zigaretten umgestiegen sind. Oft haben sie dies nicht nur oder nicht einmal hauptsächlich aus Gesundheitsgründen getan. Vielmehr wurde es ihnen zu unangenehm, als Störfaktor wahrgenommen zu werden; oder zu umständlich, die allgegenwärtigen Rauchverbote in der Öffentlichkeit zu umgehen; oder es war moralisch nicht mehr vertretbar, andere Menschen (vor allem Familienmitglieder) zum passiven Rauchen zu verdammen. Alle diese Gründe fallen komplett weg, wenn es um Kautabak, Snus oder Wasserpfeife geht. Erstere sind emissionslos für die Umwelt, letztere gesellschaftlich vollkommen integriert. Hochgefährlich für die Gesundheit sind beide dennoch. Aber die Angriffspunkte, um hier etwa die E-Zigarette als Alternative zu platzieren, müssen völlig andere sein, als wir sie gewohnt sind.
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