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Doppelmoral mit System: Wie die AfD gegen Beleidigungen vorgeht – und dabei ein Gesetz nutzt, das sie abschaffen will

Doppelmoral mit System: Wie die AfD gegen Beleidigungen vorgeht – und dabei ein Gesetz nutzt, das sie abschaffen will
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Es ist ein Satz, der sich eingebrannt hat in die digitale Erinnerung der Bundesrepublik: „Ein Gericht hat geurteilt, dass man mich ‚Nazischlampe‘ nennen darf.“ Gesagt hat ihn Alice Weidel, AfD-Fraktionschefin, 2020 in einer Ausgabe von „Anne Will“. Der Ausschnitt kursiert bis heute – wie ein Freifahrtschein für Beleidigungen. Was viele nicht wissen: Der juristische Kontext war ein anderer. Und die politische Wirklichkeit auch.

Denn während sich die AfD gern als Verteidigerin der Meinungsfreiheit inszeniert, gehen ihre Spitzenpolitiker massiv gegen vermeintliche und tatsächliche Beleidigungen im Netz vor – mit Verweis auf Paragraf 188 StGB. Genau jenem Gesetz, das sie öffentlich bekämpfen.

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Satire, Strafanzeigen, Staatsgewalt

Der Ursprung der Debatte liegt im Jahr 2017. Der NDR-Satiriker Christian Ehring hatte Weidels Rede gegen „politische Korrektheit“ im Magazin extra 3 kommentiert – mit einem zynischen „Da hat die Nazischlampe doch recht.“ Das Landgericht Hamburg wertete dies als zulässige Satire. Weidel scheiterte mit ihrem Unterlassungsantrag. Doch der Schnipsel aus „Anne Will“, in dem sie diese Entscheidung erwähnt, wird seither von Kritikern als Einladung verstanden – mit strafrechtlichen Folgen für viele.

Denn die AfD verfolgt derartige Äußerungen inzwischen mit juristischer Akribie. Der Fall eines Mannes bei Kiel zeigt das exemplarisch: Drei Polizisten, drei Anhörungen, ein klarer Hinweis – bitte keine weiteren Beleidigungen im Netz. Die Bezeichnung „Nazischlampe“ hatte strafrechtliche Ermittlungen nach sich gezogen. Paragraf 188 erlaubt das – als Schutz für Personen des politischen Lebens.

Anzeige-Flut: Wer Weidel beleidigt, bekommt Post

Die Strafverfolgung bleibt nicht symbolisch. Mehrere Juristen berichten von einer regelrechten Flut an Anzeigen, nahezu ausschließlich initiiert von AfD-Politikern – vor allem Alice Weidel. Ein Bremer Anwalt spricht von Dutzenden laufenden Verfahren in seiner Kanzlei, überwiegend wegen Beiträgen auf Social Media. Seine Kollegin in Berlin betreut derzeit etwa 20 Mandanten, gegen die zusammen rund 200 Anzeigen erstattet wurden. Der Hauptvorwurf: Beleidigung von AfD-Spitzenkräften.

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Besonders drastisch zeigt sich der Fall eines Mannes aus Franken, der mit über 50 Anzeigen konfrontiert ist. Für zehn seiner Postings wurde er zu 7.200 Euro Strafe verurteilt – 90 Tagessätze à 80 Euro. Weitere Verfahren laufen.

Paragraf 188 – Symbol einer doppelten Strategie

Öffentlich gibt sich die AfD als Gegnerin des Paragrafen. In einem eigenen Gesetzentwurf zur Abschaffung des Straftatbestands spricht sie von einem Angriff auf die Meinungsfreiheit. Parteivertreter bezichtigen Justiz und Politik, das Gesetz zur Einschüchterung Andersdenkender zu missbrauchen. Von einer „NGO-Stasi“ und „Internetspitzeln“ ist die Rede.

Gleichzeitig macht die Partei regen Gebrauch von genau diesem Paragrafen. Der Grund? „Waffengleichheit“, wie Weidels Sprecher erklärt. Man wolle sich nicht rechtlos stellen lassen, solange das Gesetz existiere. Das führt jedoch zu einem paradoxen Bild: Eine Partei, die einen Gesetzesparagrafen öffentlich verteufelt, nutzt ihn intern umfassend, um gegen ihre Kritiker vorzugehen.

Einige Verteidiger der Angezeigten sehen in diesem Verhalten eine gezielte Inszenierung der Opferrolle. Es sei offensichtlich, dass das Strafrecht hier auch zur politischen Profilierung diene. Manche Juristen argumentieren inzwischen sogar, dass öffentliche Aussagen von AfD-Politikern gegen Paragraf 188 als stillschweigende Rücknahme ihrer Strafanträge gewertet werden könnten – mit Hinweis auf eine mangelnde persönliche Betroffenheit.

Meldeportale, Algorithmen, Spendenaufrufe

Viele Hinweise auf mutmaßlich strafbare Äußerungen gelangen über staatliche Meldestellen wie „Hessen gegen Hetze“ an die Strafverfolgungsbehörden. Weidel steht hier mit Abstand an der Spitze der gemeldeten Fälle. Von November 2024 bis Januar 2025 wurden 559 potenziell strafbare Postings zu ihrer Person gemeldet.

Aber auch parteinahe oder rechtsextreme Netzaktivisten mischen mit. Ein besonders aktiver Nutzer, der unter dem Pseudonym „Wuppi“ auftritt, hat laut eigenen Angaben rund 60 Anzeigen gestellt. Seine Motivation: juristische Testläufe, um politische Gegner anzugreifen – oder das System selbst bloßzustellen.

Auch AfD-Politikerin Beatrix von Storch engagiert sich – nicht nur durch eigene Anzeigen, sondern auch durch finanzielle Hilfe für Sympathisanten, die wegen Beleidigungen verurteilt wurden. Teilweise übernimmt sie Bußgelder oder wirbt öffentlich um Spenden.

Justiz in der Zwickmühle

Paragraf 188 gilt als relatives Offizialdelikt – also ein Fall, bei dem auch ohne Strafantrag Ermittlungen möglich wären. Doch in der Praxis wird ohne Antrag selten aktiv geworden. Die Staatsanwaltschaften sehen kaum öffentliches Interesse, wenn es „nur“ um Beleidigungen geht. Meist werden Verfahren eingestellt. Der bekannteste Ausnahmefall: Die Beleidigung von Wirtschaftsminister Habeck als „Schwachkopf“. Eine Durchsuchung erfolgte – später wurde das Verfahren jedoch eingestellt.

Viele Strafverteidiger sehen den Paragrafen kritisch. Die Frage sei oft, ob die betroffenen Politiker wirklich in ihrer Amtsausübung beeinträchtigt würden – oder ob es sich schlicht um überspitzte Meinungsäußerungen handelt. Besonders problematisch sei, dass ein Bürger in solchen Verfahren das volle Kostenrisiko trägt – während die Politik klagen kann, ohne finanzielles Risiko.


Was denken Sie über den Umgang der AfD mit Beleidigungen gegen ihre Politiker?

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