Visa-Bann gegen Europas Netz-Wächter: Wie die USA den Digitalstreit zur Machtfrage machen
Fünf Namen auf einer Liste – und plötzlich wirkt „Free Speech“ wie eine Grenzkontrolle
Manchmal braucht Politik keine Panzer, keine Sanktionen, keine Zölle. Manchmal reicht ein Stempel. Am 23. Dezember 2025 verhängt das US-Außenministerium Einreise- bzw. Visa-Beschränkungen gegen fünf Europäer – darunter Thierry Breton, früherer EU-Kommissar und Gesicht europäischer Tech-Regulierung. Mit auf der Liste: Köpfe von Organisationen, die gegen Hass und Desinformation arbeiten – etwa HateAid aus Deutschland, das britische Center for Countering Digital Hate (CCDH) und der Global Disinformation Index.
Die US-Begründung: Europa betreibe „extraterritoriale Zensur“ – es dränge amerikanische Plattformen zu Moderation, zu Sperrungen, zu Regeln, die in Washington als Angriff auf die amerikanische Debattenkultur verkauft werden. US-Außenminister Marco Rubio warnt laut Berichten sogar vor weiteren Namen auf dieser Liste.
Wer ist HateAid – und warum trifft es ausgerechnet NGOs?
HateAid ist eine Berliner Non-Profit-Organisation, die Betroffene digitaler Gewalt unterstützt – Beratung, rechtliche Hilfe, politischer Druck, damit Online-Angriffe nicht folgenlos bleiben. In den USA wird daraus nun: „Zensur-Industrie“. In einer eigenen Stellungnahme spricht HateAid von einem politischen Einschüchterungsversuch; sogar Angehörige könnten betroffen sein.
Das ist der strategische Dreh: Wer NGOs trifft, trifft nicht nur einzelne Aktivisten – sondern das gesamte Umfeld, das in Europa an der Durchsetzung von Plattformpflichten mitarbeitet. Und das sendet ein Signal an alle, die künftig noch Klagen, Beschwerden oder Studien gegen Plattformen anstoßen wollen.
Was ausländische Medien über die Aktion schreiben
In Europa wird der Schritt als Eskalation gelesen. Der Guardian berichtet über scharfe Reaktionen europäischer Spitzenpolitiker und ordnet die Visa-Beschränkungen als Angriff auf europäische digitale Souveränität ein. Die AP betont die Drohkulisse und die Möglichkeit europäischer Gegenreaktionen. Reuters beschreibt den Vorgang als Teil einer breiteren US-Kampagne gegen europäische Digitalregeln.
US-Techmedien wie The Verge erzählen es als Vergeltungsschlag im Kulturkampf um Moderation – inklusive Verweis auf den Streit zwischen X und dem CCDH-Umfeld. Die Geschichte bekommt damit ihr amerikanisches Drehbuch: nicht „Regeln“, sondern „Unterdrückung“.
„Unser Markt, unsere Regeln“ – die EU setzt auf den Brüsseler Hebel
Die EU hat ihren wichtigsten Satz längst formuliert: Wer Dienste in der Union anbietet, muss EU-Recht einhalten. Der Digital Services Act (DSA) ist ausdrücklich so gebaut, dass er auch Anbieter außerhalb der EU erfasst – entscheidend ist, ob Nutzer in der EU erreicht werden. Diese Extraterritorialität ist gewollt: Der Markt soll Regeln erzwingen.
Und genau hier beginnt der Streit um das Wort „frei“. Denn Washington fordert rhetorisch gern den freien Markt – aber wenn Europas Regeln den US-Plattformen weh tun, wird aus Markt schnell Macht: Einreisebeschränkungen, politische Drohungen, „Deal“-Logik. Selbst in europäischen Kommentaren wird inzwischen offen beschrieben, dass die USA auf EU-Digitalgesetze Druck ausüben.
„Dann sollen die Tech-Konzerne halt gehen“ – warum das trotzdem nicht die Lösung ist
Der Gedanke klingt verführerisch: Niemand zwingt US-Plattformen, ihre Dienste in Europa anzubieten. Wenn sie EU-Recht nicht mögen – Ausstieg. Theoretisch stimmt das. Praktisch ist es selten. Die EU ist für viele Plattformmodelle zu groß, um sie einfach abzuschalten. Realistischer ist: Sie bleiben – und kämpfen. Mit Lobbyarbeit, Klagen, Feature-Reduktionen, regulatorischem Kleinkrieg.
Das Visa-Instrument passt in dieses Muster: weniger Wirtschaft als Botschaft. Es sagt: Wer an Plattformen rührt, bekommt Gegenwind – nicht nur in Brüssel, sondern an der US-Grenze.
Wie China es macht: Marktzugang als Privileg, nicht als Recht
China löst solche Konflikte nicht mit Debatten über „Free Speech“, sondern mit Infrastruktur: Die Great Firewall ist laut Freedom House seit Jahren Teil eines der weltweit härtesten Systeme staatlicher Online-Kontrolle; zahlreiche ausländische Dienste sind blockiert.
Dazu kommen harte Onshore-Regeln: Wer in China hostet, braucht typischerweise ICP-Registrierung (und weitere Pflichten). Viele Dienste setzen auf Real-Name-Registrierung. Und seit 15. Juli 2025 läuft ein staatlich gebündeltes Digital-ID-System, das – offiziell „Schutz“ – in der Praxis vor allem Zentralisierung von Kontrolle bedeutet.
Auch Datenflüsse werden strategisch behandelt: China hat Regeln für grenzüberschreitende Datentransfers angepasst, aber das Grundprinzip bleibt: Export ja, aber kontrolliert – mit Sicherheitsprüfungen, Standardverträgen und weiteren Pfaden.
Und selbst Algorithmen sind reguliert: Seit 2022 gelten in China umfassende Vorschriften für Empfehlungssysteme.
Sollte die EU eigene Tech-Unternehmen fördern? Ja – sonst bleibt sie nur der Schiedsrichter ohne Mannschaft
Der Visa-Streit zeigt Europas Risiko: Regulierung allein schützt nicht vor Abhängigkeit. Wer keine eigene Cloud-Infrastruktur, keine Skalierungschampions, keine kritischen Lieferketten hat, kann zwar Regeln schreiben – aber wird im Konflikt trotzdem erpressbar.
Die EU bewegt sich bereits: Der Chips Act soll Versorgungssicherheit und Produktion stärken. STEP bündelt und lenkt Förderlogik in strategische Technologien. Die EIB will mit TechEU bis 2027 insgesamt 70 Milliarden Euro mobilisieren und damit privates Kapital anziehen.
Für die „Tal der Tränen“-Phase – wenn Start-ups zu groß für Grants, aber zu riskant für den Kapitalmarkt werden – gibt es Instrumente wie den EIC Accelerator (Grants plus Equity) und das EIC STEP Scale Up mit Equity-Tickets von 10 bis 30 Millionen Euro. Und bei der Infrastruktur setzt die EU auf Programme wie IPCEI Cloud/Edge (IPCEI CIS) und EuroHPC (Supercomputing/Quantum).
Aber der entscheidende Punkt ist nicht, ob Programme existieren. Sondern ob Europa den Mut hat, daraus eine Wachstumsmaschine zu bauen: schnellere Genehmigungen, weniger 27-Markt-Reibung, Beschaffung als Marktmotor – und ein Kapitalmarkt, der Skalierung nicht in die USA auswandern lässt.
Der Kern der neuen Lage
Die USA werfen Europa „Zensur“ vor – und nutzen dafür ein Instrument, das wie Zensur an der Grenze aussieht. China zeigt, wie knallhart Marktzugang als Hebel funktioniert. Europa steht zwischen beiden Modellen – und muss entscheiden, ob es nur Regeln exportiert oder auch technologische Substanz aufbaut.
Sonst bleibt die EU der globale Regulator mit großer Pfeife – und ohne Stadionlicht, sobald andere das Spiel zur Machtfrage erklären.







