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Europa, entscheide dich: Warum ein erneuerbares Energiesystem billiger ist – und sicherer

Europa, entscheide dich: Warum ein erneuerbares Energiesystem billiger ist – und sicherer

Europa ringt mit teuren Gasrechnungen, Klimazielen und der Frage, ob Atomkraft, Wasserstoff oder CO₂-Speicher die Zukunft retten sollen. Eine neue Studie von WindEurope und Hitachi Energy kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Wer ernsthaft auf Wind und Sonne setzt, zahlt deutlich weniger – und wird unabhängiger.

Fünf Wege in die Energiezukunft – nur einer ist wirklich günstig

Die Ausgangsfrage der Studie „Delivering a cost-effective energy system for Europe“ klingt banal, ist aber politisch explosiv: Wie lässt sich Europas Energiesystem bis 2050 so umbauen, dass es klimaneutral, sicher – und bezahlbar bleibt?

Die Autorinnen und Autoren simulieren fünf mögliche Pfade für die EU-27 (plus Großbritannien, Norwegen, Schweiz und Westbalkan):

  • Renewables+: massiver Ausbau von Wind- und Solarenergie, starke Elektrifizierung.
  • Nuclear+: Kernkraft erlebt ein Comeback, Laufzeitverlängerungen und Neubauten inklusive.
  • Hydrogen+: Wasserstoff wird zum Allzweckenergieträger, mit entsprechend hohen Elektrolyseur-Kapazitäten.
  • CCS+: fossile Kraftwerke und Industrieanlagen werden mit CO₂-Abscheidung (CCS) gekoppelt.
  • Slow Transition: Business as usual – fossile Anlagen laufen aus, erneuerbare Energien wachsen nur schleppend, Klimaziele werden verfehlt.

Alle Pfade – außer „Slow Transition“ – orientieren sich an der Klimapfad-Variante S2 der EU-Kommission: mindestens 55 Prozent weniger Treibhausgase bis 2030, 90 Prozent bis 2040, Netto-Null 2050.

Die Rechnung: 1,6 Billionen Euro Unterschied

Am Ende zählt die Summe – und die fällt drastisch unterschiedlich aus. Im Mittelpunkt steht nicht nur der Strompreis, sondern die gesamten „Total energy system costs“: Investitionen in Erzeugung, Strom- und Wasserstoffnetze, Speicher, Brennstoffe, CCS sowie der Umbau von Gebäuden, Industrie und Verkehr hin zu Strom und Wasserstoff.

Das Ergebnis: Renewables+ ist mit Abstand der günstigste Weg. Bis 2050 spart dieser Pfad gegenüber den drei anderen Netto-Null-Szenarien (Nuclear+, Hydrogen+, CCS+) zwischen 487 und 860 Milliarden Euro ein – rund fünf bis knapp neun Prozent Gesamtkosten-Differenz.

Noch heftiger wird der Vergleich mit dem langsamen Pfad: „Slow Transition“ kostet Europa bis 2050 ganze 1.637 Milliarden Euro mehr als Renewables+, allein beim Energiesystem. Ein Großteil dieser Mehrkosten entsteht durch die längere Abhängigkeit von importiertem Öl und Gas.

Die Studie rechnet zusätzlich durch, was passiert, wenn man auch die Kosten des Nachfrage-Umbaus – also Wärmepumpen, E-Autos, H₂-Prozesse in der Industrie – einpreist. Auch dann bleibt der erneuerbare Pfad vorne: Renewables+ ist inklusive dieser Kosten bis 2050 immer noch rund 663 Milliarden Euro günstiger als „Slow Transition“.

Nur in einem kurzen Zeitfenster scheint Zögern „billig“ zu sein: Zwischen 2025 und 2030 ist der langsame Pfad laut Modell um etwa ein Prozent günstiger. Doch schon vor 2035 kippt die Bilanz – dann überholen die Kosten des Aussitzens die Investitionen in Netze, Speicher und neue Anlagen.

Wind und Sonne als Rückgrat – selbst im Atom-Szenario

Wer bei „Renewables+“ an eine Welt voller Solarzellen, aber mit Atomkraft im Hintergrund denkt, liegt falsch. Die Struktur des Stromsystems verschiebt sich fundamental. In der Vorzugsvariante liefern Wind und Sonne 2050 zusammen 83 Prozent der Stromerzeugung, davon Wind allein 54 Prozent (34 Prozent an Land, 20 Prozent auf See) und Solar 31 Prozent.

Überraschend: Selbst in den Szenarien, die Kernkraft, CCS oder Wasserstoff massiv pushen, dominiert am Ende die schwankende Erzeugung aus Wind und Sonne:

  • Hydrogen+: 84 Prozent Wind+Solar-Anteil im Strommix 2050.
  • CCS+: 81 Prozent.
  • Nuclear+: immer noch 77 Prozent.
  • Slow Transition: 68 Prozent.

Die Botschaft hinter den Zahlen ist deutlich: Selbst dort, wo Atomkraft oder CCS in der Modellwelt aggressiv ausgebaut werden, kommen sie nicht als neues Rückgrat des Systems daher – sie werden eher zum teuren Add-on auf einem Fundament aus Erneuerbaren.

Die Kostenstruktur stützt diese Lesart: Im Renewables+-Szenario liegt der durchschnittliche Strom aus Solar und Wind deutlich unter den Kosten fossiler und nuklearer Erzeugung – selbst wenn man Netzausbau, Speicher und Backup-Leistungen einrechnet.

Importabhängigkeit: Nur Erneuerbare machen Europa wirklich souverän

Spätestens seit Putins Angriffskrieg ist „Energieunabhängigkeit“ zur Währung der Politik geworden. Die Studie quantifiziert, wie stark Europa in den verschiedenen Szenarien bis 2050 noch auf Brennstoffimporte angewiesen wäre – von Gas und Öl über Kohle bis zu Wasserstoff und Uran.

Das Bild ist eindeutig:

  • In Renewables+ und Hydrogen+ sinkt die Importabhängigkeit von 71 Prozent (2030) auf nur noch 22 Prozent 2050.
  • In CCS+ bleibt sie bei 29 Prozent, in Nuclear+ bei 37 Prozent.
  • Slow Transition hält Europa 2030 bei 78 Prozent und selbst 2050 noch bei 54 Prozent Importquote.

Mit anderen Worten: Wer auf Kernkraft oder CCS als Heilsbringer setzt, senkt die Importabhängigkeit zwar – aber nicht annähernd so stark wie ein echter Erneuerbaren-Pfad. Und wer weiter trödelt, bleibt dauerhaft in der Rolle des Kunden auf einem volatilen Weltenergiemarkt.

Die Studie betont außerdem, dass in allen Szenarien noch genügend „Baseload“-Kapazitäten vorhanden sind: 2050 liegt die installierte gesicherte Leistung immer noch 32 bis 43 Prozent über der minimalen Last. Dazu kommen Speicher, flexible Verbraucher und die hohe Erneuerbaren-Kapazität.

Was die Wind-Lobby verschweigt – und was trotzdem hängen bleibt

WindEurope ist die zentrale Lobbyorganisation der europäischen Windbranche, Hitachi Energy verdient am Netzausbau – das ist kein neutraler Thinktank, sondern eine Interessenallianz. Und die Studie macht keinen Hehl aus ihrer Agenda: Am Ende des Berichts steht ein klares politisches Forderungspaket – mehr Netze, schnellere Genehmigungen, zwei-seitige CfDs, stärkere Förderung von Elektrifizierung und eine robuste europäische Wind-Lieferkette.

Einige Annahmen sind bewusst optimistisch:

  • Im CCS+-Szenario wird eine CO₂-Abscheiderate von 95 Prozent unterstellt – höher als viele heutige Projektionen – und es werden sogar fünf Prozent Restemissionen im Jahr 2050 akzeptiert, um CCS-Investitionen wirtschaftlich zu machen.
  • Im Nuclear+-Szenario wird angenommen, dass alle Länder, die über Laufzeitverlängerungen oder Neubauten nachdenken, ihre Kernkraftpläne vollständig ausschöpfen – politisch ein Wunschbild.
  • Im Hydrogen+-Pfad werden Wasserstoff-Importpreise günstiger angesetzt als in anderen Szenarien, um den H₂-Pfad nicht künstlich zu benachteiligen.

Gleichzeitig blendet der Bericht vieles aus, was für eine ehrliche gesamtgesellschaftliche Rechnung relevant wäre: Klimaschäden, Gesundheitskosten durch Luftverschmutzung, Biodiversitätsverluste, soziale und politische Instabilität infolge fossiler Abhängigkeiten. All diese Folgekosten werden ausdrücklich nicht mitgerechnet – obwohl andere Studien sie inzwischen in Billionenhöhe beziffern.

Gerade deshalb ist das Ergebnis bemerkenswert: Selbst unter eher freundlichen Annahmen für Fossilpfade, Atomkraft und CCS bleibt der erneuerbare Pfad der günstigste. Würde man Klimaschäden und Gesundheitskosten ernsthaft einpreisen, sähe „Slow Transition“ noch deutlich schlechter aus – und auch die vermeintlich „technologieoffenen“ CCS- und Atom-Szenarien würden weiter an Attraktivität verlieren.

Die politischen Konsequenzen: Zögern ist keine neutrale Option

Für Brüssel und die Hauptstädte Europas steckt in dem Report eine unbequeme Botschaft: „Nichts überstürzen“ ist keine neutrale Haltung – es ist eine teure Wette auf fossile Importe. Wer den Ausbau von Wind, Solar und Netzen ausbremst, spart kurzfristig Investitionssummen in den 2020er-Jahren – und zahlt dafür in den 2030er- und 2040er-Jahren Milliarden drauf.

Die Handlungsempfehlungen der Studie lassen sich auf drei einfache politische Weichenstellungen herunterbrechen:

  1. Netze vorziehen statt hinterherziehen. Strom- und Wasserstoffnetze müssen antizipativ gebaut werden – nicht als Nachzügler hinter jeder Windfarm.
  2. Genehmigungen entbürokratisieren. Ohne digitalisierte, verkürzte Verfahren bleiben die Ausbauziele für Wind und Solar Papier.
  3. Elektrifizierung steuerlich begünstigen. Wer Strom mit Abgaben überlädt und Gas subventioniert, bremst die Transformation aus – und treibt am Ende die Gesamtkosten nach oben.

Was der Bericht nicht beantwortet, ist die politisch heikelste Frage: Wie werden diese Investitionen sozial gerecht verteilt – zwischen Haushalten, Industrie und Staat, zwischen Nord- und Südeuropa, zwischen der fossilen Altindustrie und neuen Sektoren? Diese Konflikte lassen sich nicht wegoptimieren.

Aber eines macht die Modellierung von WindEurope und Hitachi Energy unübersehbar klar: Die Debatte „Erneuerbare versus Bezahlbarkeit“ ist ein Scheingefecht. Die eigentliche Wahl, vor der Europa steht, lautet: Schnell und systematisch in Erneuerbare, Netze und Elektrifizierung investieren – oder auf Jahrzehnte hinaus mehr zahlen, abhängiger bleiben und die Klimaziele verfehlen.

In Zahlen ausgedrückt: Es ist die Wahl zwischen einem Energiesystem, das 2050 von heimischer Wind- und Sonnenenergie dominiert wird – oder einem, das weiterhin mit dreistelligen Milliardenbeträgen fossile Brennstoffe aus aller Welt einkauft. Dass ausgerechnet die Lobby der Windbranche diesen Unterschied so plastisch ausrechnet, macht den Befund nicht weniger relevant – im Gegenteil.