Klarname fürs Netz? Voßkuhles Vorstoß – und warum der Personalausweis die klügere Alternative sein könnte
Zwischen den Jahren kommen die großen Grundsatzfragen gern wieder hoch. Eine davon lautet: Wie viel Anonymität verträgt die Demokratie – und wie viel braucht sie?
Andreas Voßkuhle, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat die Debatte kurz vor Jahresende neu angeheizt. Seine Diagnose: Hass und Hetze im Netz seien nicht bloß schlechter Stil, sondern ein schleichendes Gift für den öffentlichen Raum. Eine Gesellschaft halte diese „Verrohung“ auf Dauer nicht aus – deshalb plädiert er für eine Klarnamenpflicht.
Die Idee: Wer sichtbar ist, benimmt sich besser
Voßkuhles Argument ist intuitiv: Wer im Netz nicht als Schatten, sondern als Person auftritt, überlegt eher, bevor er beleidigt, bedroht oder verleumdet. Und wenn es doch strafbar wird, ließe sich der Täter leichter greifen. Unterstützung bekommt er aus der Politik – etwa von Bayerns Digitalminister Fabian Mehring, der von „Verantwortung“ spricht, analog wie digital.
Das klingt nach Ordnung. Nach einer Art TÜV fürs Wort. Nur: Genau hier beginnt das Problem.
Der Gegeneinwand: Demokratie muss auch das Pseudonym aushalten
Bundesjustizministerin Stefanie Hubig hält dagegen: Menschen sollen ihre Meinung und Erfahrungen auch anonym oder unter Pseudonym äußern dürfen. Das berechtigte Interesse ende dort, wo Straftaten beginnen – aber dafür brauche es keine generelle Klarnamenpflicht.
In dieselbe Richtung argumentieren Kritiker aus der Rechtsdebatte: Eine Klarnamenpflicht könne abschrecken – nicht nur „Trolle“, sondern auch Whistleblower, Opfer von Gewalt, Minderheiten, Menschen in beruflichen Abhängigkeiten. Und sie schafft neue Risiken: Doxing, Stalking, digitale Pranger.
Der juristische Stolperstein: Das Gesetz geht derzeit in die andere Richtung
Es kommt noch eine Pointe hinzu, die in der Klarnamen-Debatte gern übersehen wird: In Deutschland ist im TDDDG (Telekommunikation-Digitale-Dienste-Datenschutz-Gesetz) ausdrücklich angelegt, dass Anbieter die Nutzung ihrer Dienste anonym oder unter Pseudonym ermöglichen sollen – soweit technisch möglich und zumutbar.
Eine flächendeckende Klarnamenpflicht wäre damit nicht einfach ein „Update der Netiquette“, sondern ein politisch und rechtlich schwerer Eingriff – und vermutlich nur mit Gesetzesänderungen, Ausnahmen und jahrelangem Streit zu haben.
Die technische Realität: „Pseudonym gespeichert“ ist nicht „anonym“
Manche schlagen als Kompromiss vor: öffentlich weiterhin Pseudonym – aber Identität irgendwo hinterlegt, notfalls abrufbar. Das klingt nach Mitte, ist aber datenschutzrechtlich kein Freifahrtschein. Denn Pseudonymisierung bleibt personenbezogen, solange eine Zuordnung existiert. Genau so definiert es die DSGVO: Ohne Zusatzinformation keine Zuordnung – aber mit Zusatzinformation eben doch.
Und je zentraler diese Zuordnung gespeichert wird, desto attraktiver wird sie: für Hacker, für Erpresser, für Datenhändler – und für jeden, der aus einem Shitstorm einen echten Schaden machen will.
Die Alternative: Pseudonym bleiben – aber verifizierbar werden (mit eID)
Wenn das Ziel „mehr Verantwortlichkeit“ lautet, ohne die Anonymität als Schutzraum zu zerstören, wirkt ein anderer Ansatz oft eleganter: die Online-Ausweisfunktion des Personalausweises (eID) – nicht als Namensschild, sondern als Hintergrund-Verifikation.
Der Staat hat die Logik dafür längst gebaut: Diensteanbieter dürfen über ein Berechtigungszertifikat nur die Daten abfragen, die sie wirklich brauchen.
Und: Es gibt die Möglichkeit einer datensparsamen, pseudonymen Anmeldung über ein dienste- und kartenspezifisches Kennzeichen (DKK) – dabei muss weder Name noch Adresse übertragen werden, trotzdem ist der Account „echt“.
Warum das für Social Media interessanter ist als „Klarname für alle“
Für soziale Netzwerke könnte daraus ein Stufenmodell werden:
- Standard: Pseudonym bleibt erlaubt (und gewollt).
- Optional: „Verifiziert“-Status per eID – sichtbar als Badge, ohne Klarname im Profil.
- Gezielt verpflichtend: Verifikation nur dort, wo Reichweite und Geld fließen (z. B. politische Werbung, Monetarisierung, Massenversand).
Dass Europa Verifikation eher zielgerichtet denkt, zeigt auch der Digital Services Act: Dort gibt es Identitäts-/Kontaktdatenpflichten vor allem für Händler auf Plattformen (Traceability of Traders) – nicht als generelle Pflicht für jeden, der postet.
Eine Warnung aus der Vergangenheit
Eine generelle Realname-Politik hat anderswo bereits Brüche produziert. Südkorea führte ein Online-„Real Name“-System ein – und das Verfassungsgericht erklärte es 2012 für verfassungswidrig. Auch dort: zu viel Eingriff, zu wenig Nutzen.
Am Ende bleibt: Voßkuhle trifft die Diagnose – aber das Rezept ist zu grob
Voßkuhle hat mit seiner Warnung einen Punkt: Wer den öffentlichen Raum vergiftet, schwächt die Demokratie.
Nur ist der Klarname als Standardlösung ein sehr breiter Eingriff, der auch die Falschen trifft. Der bessere Satz für das Netz wäre vermutlich nicht „Zeig dein Gesicht“, sondern: Bleib, wer du willst – aber sei im Ernstfall verantwortlich. Technisch wäre das mit eID eher erreichbar als mit einer Klarnamenpflicht, die am Ende vor allem neue Risiken schafft.







