Europas Schutzschirm: Wie die Sky Shield Initiative das neue Sicherheitsversprechen werden soll
Ein deutsches Projekt wird europäisch – aber nicht ohne Konflikte, Zweifel und nationale Sonderwege
Was als deutscher Vorstoß begann, wächst zu einem ambitionierten europäischen Rüstungsprojekt: Die „European Sky Shield Initiative“ (ESSI) soll den Luftraum Europas künftig vor Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen schützen – in einem multilateralen Verbund, der mittlerweile 24 Länder umfasst. Doch trotz gemeinsamer Sicherheitsversprechen tun sich alte Gräben auf: Frankreich mosert, Polen zaudert, und die Schweiz will neutral bleiben – trotz Milliardeninvestitionen.
Die Genesis eines neuen Verteidigungskonzepts
Die Initialzündung erfolgte 2022, als sich russische Raketenangriffe auf ukrainische Städte häuften. Deutschland reagierte – nicht mit Abfangraketen, sondern mit Diplomatie. Unter Führung von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht wurde der Aufbau eines gemeinsamen europäischen Luftabwehrsystems vorangetrieben. Die Idee: Mehrschichtige Verteidigung aus bereits bewährter Technologie, gemeinschaftlich beschafft, gemeinsam gewartet – interoperabel, effizient und kostensparend.
Das Konzept ist technisch schlüssig: Auf kurzer Distanz sollen Systeme wie „Skyranger 30“ wirken, in mittlerer Reichweite das deutsche IRIS-T SLM, auf Langstrecke das amerikanische Patriot-System – und gegen ballistische Raketen in der Stratosphäre das israelische Arrow-3. Letzteres ist mit rund vier Milliarden Euro nicht nur teuer, sondern auch ein geopolitischer Knackpunkt.
Einigkeit – mit Ausnahmen
Bislang sind 24 Länder Teil des Programms – darunter Österreich, Belgien, Finnland, Griechenland, die Türkei und jüngst auch die Schweiz, die im Juli 2025 verbindlich fünf IRIS-T SLM-Systeme bestellte. Doch nicht alle EU-Staaten sind überzeugt: Frankreich hält sich ebenso zurück wie Italien, Polen oder Spanien. Der Vorwurf aus Paris: Die Initiative fördere vor allem US-amerikanische und israelische Waffenhersteller und marginalisiere europäische Alternativen wie das SAMP/T-System.
Besonders brisant: Der französische Boykott ist auch ein industriepolitisches Signal. Präsident Emmanuel Macron sieht in der ESSI einen Affront gegen das Ziel einer europäischen strategischen Autonomie. Der Alleingang Deutschlands sei weder abgestimmt noch europäisch gedacht, heißt es aus Élysée-Kreisen.
Polen: Interner Machtkampf statt Raketenabwehr
In Polen spaltet die Initiative sogar das Regierungslager. Während Premierminister Donald Tusk einen Beitritt befürwortet, blockiert Präsident Andrzej Duda das Vorhaben – ein innenpolitischer Machtkampf auf dem Rücken der europäischen Sicherheit. Die Verteidigungspolitik wird so zur Bühne parteipolitischer Machtspiele – und zur Verzögerungstaktik in einer sicherheitspolitisch brisanten Zeit.
Die Schweiz: Neutralität mit System?
Und auch im neutralen Alpenstaat wird taktiert. Zwar hat die Schweiz dem Programm 2023 beigetreten und inzwischen konkrete Waffensysteme bestellt – doch ein Einsatz im Bündnisfall bleibt ausgeschlossen. Man wolle seine Neutralität wahren, betonen Regierung und Armee. De facto bedeutet das: Die Schweiz zahlt für eine Verteidigung, die sie im Ernstfall möglicherweise gar nicht mitträgt.
Eine Idee mit System – und Schwächen
Trotz aller diplomatischen Dissonanzen: Der Aufbau einer gemeinsamen europäischen Luftverteidigung ist sicherheitspolitisch überfällig. Die Ukraine zeigt, wie verletzlich Staaten ohne moderne Luftverteidigung sind. Die ESSI ist eine logische Antwort auf die neue Bedrohungslage – technologisch robust, politisch ambitioniert.
Doch das Projekt steht vor gewaltigen Herausforderungen. Die Integration unterschiedlichster Systeme – von Arrow 3 bis Patriot – in die NATO-Kommandostrukturen ist technisch komplex. Auch der zeitliche Rahmen ist eng gesteckt: Die ersten Systeme sollen 2025 einsatzbereit sein, der Vollbetrieb bis 2030 folgen.
Und schließlich bleibt eine Frage offen: Wird die ESSI langfristig ein europäisches Projekt – oder doch nur ein Flickenteppich nationaler Alleingänge unter deutschem Etikett?