Meeresschildkröten nutzen Magnetfeld als Karte und Kompass
Neue Studie zu Meeresschildkröten liefert bahnbrechende Belege
Weltweit mehren sich die Belege dafür, dass wandernde Tiere das Erdmagnetfeld sowohl als Kompass zur Bestimmung der Richtung als auch als Karte zur Lokalisierung ihrer geografischen Position nutzen. Insbesondere für Langstreckenwanderer wie Vögel, Fische und Schildkröten ist dieser Magnetsinn von entscheidender Bedeutung. Während die Kompassfunktion des Magnetfelds bei Tieren gut dokumentiert ist, blieb die Frage, ob Tiere auch magnetische Signaturen bestimmter geografischer Orte erlernen können, bislang weitgehend unbeantwortet.
Eine neue Studie der University of North Carolina, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Nature, liefert nun den ersten empirischen Beweis: Unechte Karettschildkröten (Caretta caretta) sind in der Lage, magnetische Koordinaten zu erlernen und gezielt mit bestimmten Orten zu verknüpfen. Diese Fähigkeit erklärt, wie sie nach Jahren auf hoher See gezielt Nahrungs- und Brutgebiete wiederfinden.
Magnetische Karten: Schildkröten erkennen geographische Signaturen
Lernprozess durch Fütterung in simulierten Magnetfeldern
Im Experiment setzten die Forschenden junge Unechte Karettschildkröten verschiedenen künstlich erzeugten Magnetfeldern aus. Diese Felder entsprachen denen bestimmter Positionen im Ozean. Ziel war es zu prüfen, ob die Tiere Unterschiede erkennen und mit der Erwartung von Nahrung verknüpfen können.
- In einem der simulierten Magnetfelder wurden die Schildkröten wiederholt gefüttert.
- In anderen, magnetisch unterschiedlichen Feldern erhielten sie kein Futter.
Das Ergebnis war eindeutig: Die Schildkröten zeigten in dem Magnetfeld, das sie mit Futter assoziierten, auffällige konditionierte Verhaltensweisen – unter anderem einen als „Freudentanz“ beschriebenen Bewegungsablauf.
Präzision der magnetischen Karte
Die Studie belegte nicht nur das Erkennen eines Magnetfelds, sondern auch die Fähigkeit der Schildkröten, mehrere unterschiedliche Magnetfelder auseinanderzuhalten. Eine der Testgruppen konnte sogar zwei zusätzliche Magnetfeldsignaturen unterscheiden.
- Die Mindestauflösung dieser inneren Karte wurde mit einer Distanz von 300 Kilometern zwischen zwei erkennbaren Feldern bestimmt.
- In freier Wildbahn kann diese Fähigkeit dazu beitragen, über tausende Kilometer entfernte Nahrungs- und Brutplätze präzise wiederzufinden.
Laut Thomas Reischig, wissenschaftlicher Leiter der Turtle Foundation International, ist dies ein entscheidender Meilenstein in der Magnetfeldforschung bei Tieren:
„Das Magnetfeld bietet weit mehr als nur Richtungsinformationen. Die Inklination – also der Winkel, in dem die Magnetfeldlinien auf die Erdoberfläche treffen – liefert klare Ortsangaben, die Schildkröten zum Navigieren nutzen.“
Zwei verschiedene Magnetsinne: Kompass und Karte arbeiten unabhängig
Unabhängige Mechanismen für Karte und Kompass
Die Studie zeigt, dass Schildkröten über zwei separate magnetische Orientierungssysteme verfügen:
- Magnetischer Kompass:
- Dient der Richtungsbestimmung.
- Funktioniert über einen chemischen Mechanismus (vermutlich auf der Basis von Radikalpaaren).
- Reagiert empfindlich auf radiofrequente Störungen.
- Magnetische Karte:
- Liefert geografische Ortsinformationen.
- Funktioniert über einen anderen, noch nicht vollständig verstandenen Mechanismus.
- Nicht beeinträchtigt durch Funkwellen, was auf einen anderen Rezeptionsweg als den chemischen Kompassmechanismus hindeutet.
Funkwellenexperimente: Aufschluss über die Wahrnehmungsmechanismen
Um die Mechanismen zu untersuchen, setzten die Forschenden die Schildkröten zusätzlich oszillierenden magnetischen Funkwellen aus, die üblicherweise die chemische Magnetorezeption stören. Das Experiment lieferte zwei bemerkenswerte Ergebnisse:
- Der magnetische Kompass der Schildkröten wurde deutlich gestört. Die Tiere konnten ihre Ausrichtung nicht mehr zuverlässig bestimmen.
- Die Fähigkeit, magnetische Signaturen als Karte zu nutzen, blieb jedoch erhalten.
Diese Resultate belegen, dass der Kartensinn nicht auf dem chemischen Mechanismus basiert, der für den Kompass verantwortlich ist. Die Schildkröten können also auch bei Funkwellenbelastung ihre „Lieblingsplätze“ gezielt ansteuern.
Bedeutung für das Überleben und die ökologische Anpassung
Die Fähigkeit, magnetische Signaturen zu erlernen, ist für Meeresschildkröten überlebenswichtig:
- Sie ermöglicht die Rückkehr zu Nistplätzen, an denen sie selbst geschlüpft sind.
- Sie erleichtert das Auffinden von konstanten Nahrungsgebieten, selbst nach mehrjährigen Wanderungen.
- Die innere Karte unterstützt die Tiere dabei, energieeffizientere Routen zu wählen.
Reischig betont die ökologische Bedeutung dieser Entdeckung:
„Diese Präzision im Navigationsvermögen zeigt, wie perfekt Meeresschildkröten an ihre Umgebung angepasst sind. Auch wenn zwei Orte für uns Menschen gleich erscheinen mögen, liefern die Magnetfelder subtile, aber entscheidende Unterschiede.“
Magnetorezeption bei anderen Tieren: Ein verbreitetes Phänomen
Nicht nur Meeresschildkröten nutzen das Magnetfeld zur Orientierung:
- Zugvögel kombinieren die Magnetwahrnehmung mit Sonnenstand und Sternbildern.
- Fische wie Aale und Lachse navigieren über magnetische Karten zu ihren Laichgebieten.
- Amphibien verfügen ebenfalls über doppelte Magnetrezeptionsmechanismen.
Doch während viele Tiere für den Magnetsinn Licht benötigen, überrascht die Schildkröte mit der Fähigkeit zur Dunkelnavigation – ein Alleinstellungsmerkmal in der Tierwelt.
Offene Fragen und zukünftige Forschung
Obwohl diese Studie einen wichtigen Schritt zum Verständnis des Magnetsinns leistet, bleiben viele Fragen ungeklärt:
- Welches Organ ist bei Schildkröten für die Kartenerkennung zuständig?
- Wie speichern und verarbeiten sie die magnetischen Informationen im Gehirn?
- Welche genetischen Grundlagen liegen dieser Fähigkeit zugrunde?
Die Forschenden betonen, dass weitere Untersuchungen nötig sind, um die biochemischen und neurophysiologischen Prozesse hinter der Magnetorezeption vollständig zu entschlüsseln.
Fazit
Die neue Studie liefert den ersten direkten Beweis, dass Unechte Karettschildkröten magnetische Signaturen erlernen und zur Navigation nutzen können. Die Trennung von Kompass- und Kartensinn zeigt eine hochentwickelte Anpassung an das Leben in den Ozeanen. Diese Erkenntnisse erweitern nicht nur unser Verständnis über die Wanderungen dieser Tiere, sondern verdeutlichen auch die Komplexität biologischer Navigationssysteme