Masken, Macht und Milliarden: Wie das Gesundheitsministerium in der Corona-Krise versagte
Ein interner Bericht des Bundesgesundheitsministeriums offenbart ein erschütterndes Bild der Maskenbeschaffung in der Corona-Pandemie: Zuständigkeiten blieben diffus, Dokumentationen lückenhaft, zentrale Entscheidungen wirken fragwürdig. Liquid-News hat die 188 Seiten umfassende Originalfassung exklusiv ausgewertet.
Berlin – Auf 188 Seiten hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Juni 2025 Bilanz gezogen: zur Beschaffung von Schutzmasken in der Corona-Pandemie, zu internen Versäumnissen – und zu einem Gutachten, das Fragen eher aufwirft als beantwortet. Der Bericht, der dem Haushaltsausschuss des Bundestages übermittelt wurde, enthält die Stellungnahme des BMG zu einer Analyse der „Sachverständigen Beraterin“ Dr. Margaretha Sudhof. Beide Dokumente sind als Verschlusssache klassifiziert.
Das Bild, das sich aus der Lektüre ergibt, ist ernüchternd. Die Pandemie war eine Extremsituation – aber die Reaktion des Ministeriums war nicht nur von Not getrieben, sondern auch von strukturellen Mängeln, Fehlentscheidungen und fehlender Kontrolle. Viele Details bleiben offen. Und manches wirkt wie aus einer anderen Zeit.
Gutachten mit blinden Flecken
Im Zentrum steht das Papier von Dr. Sudhof, beauftragt im Juli 2024 durch den damaligen Minister Karl Lauterbach, unterstützt von zwei Beamtinnen aus dem Verteidigungsministerium. Die Bewertung des Ministeriums ist zurückhaltend, aber deutlich: „Die Methodik und Quellen Frau Dr. Sudhofs ergeben sich überwiegend nicht aus dem vorliegenden Papier.“ (S. 2)
Der Umfang des Gutachtens – rund 170 Seiten – steht im Kontrast zu seiner Substanz: Wer wurde befragt? Welche Dokumente gesichtet? Wie wurden Schlussfolgerungen gezogen? Vieles davon lässt sich nicht nachvollziehen. Besonders kritisch: Das Papier thematisiert Handlungen von Ex-Minister Jens Spahn – doch dieser wurde laut BMG nie befragt.
Beschaffung in Eigenregie – ohne Routine
Die Lage im Frühjahr 2020 war chaotisch. Weltweit stieg der Bedarf an Schutzmasken rapide, Lieferketten brachen zusammen. Am 9. März 2020 übernahm das BMG die Federführung für die Maskenbeschaffung (S. 4). Doch es fehlte an erprobten Verfahren. Statt auf die etablierte Infrastruktur der Bundesbeschaffungsstellen zu setzen, beschloss das Ministerium, eigene Wege zu gehen.
Die Folgen: Verträge über Millionen Masken – ohne Lieferungen. Logistikverträge – ohne Ausschreibung. Daten – ohne klare Aktenführung. So meldete das Bundesamt für Ausrüstung am 23. März 2020, es gebe lediglich 60.000 FFP2-Masken – obwohl über zehn Millionen bestellt waren (S. 8).
Das Open-House-Verfahren: Ein teures Experiment
Ein besonders umstrittenes Kapitel: das sogenannte Open-House-Verfahren. Mit Fixpreisen sollten Masken schnell und in großen Mengen beschafft werden. Doch die Preisfindung war intransparent. Die „Sachverständige Beraterin“ äußert Zweifel an der Methodik. Das Ministerium verteidigt sich: „Angesichts der PSA-Knappheit gab es im März 2020 eine ständig schwankende Preisentwicklung.“ (S. 11)
Ein Zitat aus dem BAAINBw-Bericht vom 3. April 2020 bringt es auf den Punkt: „Lieferanten fürchten aufgrund des Agierens der USA ihren vertraglichen Lieferpflichten nicht nachkommen zu können.“ Die Preise explodierten – auf bis zu 13,52 € für eine FFP2-Maske (S. 11). Der Bund zahlte Fixpreise von bis zu 4,50 €, was heute als überhöht gilt – aber damals als alternativlos erschien.
Mangelhafte Qualität – wenig Regress
Zahlreiche Lieferungen wiesen Mängel auf. Ob Regressforderungen ausreichend verfolgt wurden, bleibt unklar. Das Ministerium verweist auf Haftungsausschlüsse in den Verträgen. „Je nach Konstellation lagen keine Pflichtverletzungen oder keine kausalen Schäden vor, die prozessual hätten erfolgreich geltend gemacht werden können.“ (S. 14)
Die geschlossenen Vergleiche mit Lieferanten hätten den Haushalt aber nicht zusätzlich belastet, sondern oft sogar entlastet – behauptet das BMG.
Übergabe vergessen
Ein erstaunlicher Befund: Als Gesundheitsministerin Kristina Warken im Mai 2025 ihr Amt antrat, erhielt sie das Gutachten nicht. „Das Dokument der ‚Sachverständigen Beraterin‘ war auch weder mündlich noch schriftlich Gegenstand der Amtsübergabe.“ (S. 2) Diese Unterlassung wirft Fragen auf – allerdings nicht mehr in Richtung Spahn, sondern an seine Nachfolger im Amt.
Empfehlungen: Zu wenig, zu spät?
Sudhof empfiehlt u. a. eine stärkere Kostenkontrolle, bessere Lagerkonzepte und klarere Aktenführung. Das Ministerium verweist darauf, dass vieles davon bereits in Umsetzung sei. Seit Ende 2024 sei eine Nutzungskonzeption für Maskenlager entwickelt worden – inklusive thermischer Verwertung abgelaufener Ware (S. 15).
Eine neue Organisationseinheit im Ministerium soll nun die Aufarbeitung fortführen und auch die geplante Enquete-Kommission des Bundestages unterstützen.
Fazit
Der Bericht des Bundesgesundheitsministeriums ist mehr als ein verwaltungsinterner Abschlussbericht – er ist ein schonungsloser Blick auf ein System in der Krise. Die Lektüre lässt wenig Zweifel: Die Überbeschaffung von Masken war nicht nur Folge globaler Engpässe – sondern auch Ergebnis fehlender Struktur, unklarer Zuständigkeiten und politischer Ad-hoc-Entscheidungen. Die Verantwortung dafür ist breit verteilt. Die politische Aufarbeitung steht erst am Anfang. Der vollständig Bericht ist hier verfügbar.