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Geisterteilchen auf der Waage – Das Rätsel der Neutrinomasse

Geisterteilchen auf der Waage – Das Rätsel der Neutrinomasse

Die geheimnisvollsten Teilchen des Kosmos

Sie durchdringen uns sekündlich milliardenfach, ohne dass wir etwas merken: Neutrinos, die unsichtbaren „Geisterteilchen“ des Universums. Selbst durch einen winzigen Daumennagel schießen pro Sekunde rund 60 Milliarden von ihnen hindurch. Sie reagieren so selten mit normaler Materie, dass sie für Jahrzehnte wie Schattenwesen der Physik erschienen. Und doch sind sie vermutlich die häufigsten Teilchen im Kosmos – und von entscheidender Bedeutung für dessen Entwicklung.

Schon beim Tod von Sternen spielen Neutrinos die Hauptrolle: Sie treiben Supernovae an, schleudern Elemente wie Sauerstoff und Kohlenstoff ins All und ebnen damit den Weg für neues Leben. Ohne Neutrinos gäbe es weder Planeten wie die Erde noch biologische Vielfalt.

Die Waage für Geisterteilchen

Doch eine Frage beschäftigt Forschende seit Jahrzehnten: Wie viel wiegen Neutrinos?
Lange hielt man sie für masselos. Erst Ende des 20. Jahrhunderts wurde klar, dass sie doch eine – wenn auch winzige – Masse besitzen müssen. Nur: Wie groß ist sie?

Um das zu klären, wurde in Karlsruhe ein Experiment der Superlative aufgebaut: KATRIN (Karlsruhe Tritium Neutrino). Der Detektor ist 70 Meter lang, 200 Tonnen schwer und gilt als die „genaueste Waage der Welt“. Sein Herzstück musste 2016 über 8.000 Kilometer von Bayern über das Schwarze Meer und den Rhein nach Karlsruhe transportiert werden, weil der Riese auf keine Straße passte.

Im Inneren lassen die Forschenden das radioaktive Isotop Tritium zerfallen. Dabei entstehen stets ein Elektron und ein Neutrino. Misst man die Energie der Elektronen mit extrem hoher Präzision, lässt sich daraus indirekt die Masse des unsichtbaren Partners berechnen.

Neue Ergebnisse – kleiner als gedacht

Im Frühjahr 2025 veröffentlichte das internationale KATRIN-Team im Fachmagazin Science die neuesten Ergebnisse:

  • Die Masse des Elektron-Neutrinos liegt unter 0,45 Elektronenvolt (eV) – weniger als ein Millionstel der Masse eines Elektrons.
  • In Kilogramm umgerechnet sind das rund 8 × 10⁻³⁷ kg – oder 0,0000000000000000000000000000000000008 Gramm.

Damit ist KATRIN doppelt so präzise wie zuvor und hat die bislang strengste Obergrenze für die Neutrinomasse gesetzt. Ein endgültiger Wert bleibt allerdings aus – bisher weiß man nur, dass Neutrinos noch leichter sind als diese Grenze.

Warum die Masse so wichtig ist

Die genaue Neutrinomasse ist ein Schlüssel für gleich mehrere Rätsel der Physik:

  • Kosmologie: Sie beeinflusst, wie sich das Universum nach dem Urknall ausdehnte und Strukturen wie Galaxien entstanden.
  • Astrophysik: Neutrinos sind Motoren von Supernovae und damit die „Geburtshelfer“ der Elemente, auf denen das Leben basiert.
  • Dunkle Materie: Hypothetische „sterile Neutrinos“, die noch schwerer fassbar wären, gelten als mögliche Kandidaten für die mysteriöse unsichtbare Masse im All.

Blick nach vorn

Bis Ende 2025 läuft KATRIN weiter und wird noch mehr Daten sammeln. Ab 2026 soll das Nachfolgeprojekt TRISTAN an den Start gehen, das nicht nur die Suche nach der Neutrinomasse, sondern auch nach sterilen Neutrinos vertiefen soll. Parallel dazu denken Forschende bereits über noch größere Anlagen nach – ein „KATRIN++“, das die Empfindlichkeit nochmals steigern könnte.

Von der Grundlagenforschung zur Energie der Zukunft

Während Neutrinos selbst kaum ein direktes technisches Potenzial bieten, rückt das Tritium-Labor in Karlsruhe zunehmend in den Fokus der Industrie. Start-ups aus der Kernfusionsforschung interessieren sich für die Erfahrung der Karlsruher mit Tritium – einem möglichen Brennstoff der Energieversorgung der Zukunft.

Fazit

Die Jagd nach der Neutrinomasse ist eine der großen Geschichten moderner Physik: winzige Geisterteilchen, die das Schicksal des Universums mitbestimmen, und ein gigantisches Hightech-Instrument, das ihnen ihre Geheimnisse entreißen soll. KATRIN hat das Spielfeld enger abgesteckt – doch die endgültige Antwort steht noch aus. Vielleicht ist es gerade diese Spannung, die den Zauber der Neutrino-Forschung ausmacht: dass hinter der unsichtbaren Welt der Geisterteilchen womöglich ein Schlüssel zum Verständnis des gesamten Kosmos verborgen liegt.


Titelbild: https://www.katrin.kit.edu/702.php