Dow zieht sich zurück – Chemieherz von Ostdeutschland steht vor dem Stillstand
Die Rückzugsbewegung der Großchemie
Ein geplanter Rückzug mit Signalwirkung: Der US-Chemiekonzern Dow wird zwei seiner wichtigsten Anlagen in Ostdeutschland stilllegen – darunter den Ethylen-Cracker in Böhlen, ein Schlüsselstück der mitteldeutschen Chemieproduktion. Auch eine Produktionslinie für Chlor-Alkali und Vinyl wird aufgegeben. 550 Arbeitsplätze sind betroffen, das Gros davon im sogenannten Chemiedreieck zwischen Leipzig, Schkopau und Leuna.
Die Entscheidung kommt nicht überraschend, aber zur Unzeit. Denn sie trifft eine ohnehin unter Druck stehende Branche – und eine Region, die wirtschaftlich auf die Verbundstrukturen der Chemie angewiesen ist.
Wirtschaftlicher Druck von allen Seiten
Dow begründet den Schritt mit einer Kombination aus anhaltend hohen Energiepreisen, steigenden CO₂-Kosten und einem sich verschärfenden globalen Wettbewerbsdruck. Vor allem Billigimporte aus Asien setzen europäischen Produzenten zu. Der Konzern verweist auch auf die wachsende regulatorische Unsicherheit in der EU – insbesondere im Zuge der europäischen Chemikalienstrategie.
„Unsere Branche sieht sich in Europa mit schwierigen Marktdynamiken und einem herausfordernden Kostenumfeld konfrontiert“, erklärte Dow-Chef Jim Fitterling.
Versorgungsnetz in Gefahr
Die geplante Schließung des Crackers in Böhlen birgt weitreichende Risiken. Denn die Anlage ist kein isolierter Produktionsstandort, sondern das Herzstück einer regionalen Wertschöpfungskette. Sie versorgt benachbarte Dow-Standorte in Schkopau und Leuna sowie zahlreiche weitere Unternehmen mit Vorprodukten für Kunststoffe und Spezialchemikalien.
Der Branchenverband VCI Nordost warnt bereits vor einem Dominoeffekt: „An jedem Chemiearbeitsplatz hängen drei weitere.“ Sollte der Cracker 2027 wie angekündigt abgeschaltet werden, könnten ganze Produktionsketten zusammenbrechen.
Einbruch im Osten – aber nicht nur dort
Dow betont, dass nicht das gesamte Deutschlandgeschäft betroffen sei. Im ostdeutschen Raum bleiben mehrere Anlagen für Kunststoffe und Bauchemie bestehen. Doch der Rückzug reiht sich in eine ganze Serie von Standortschließungen ein:
- BASF hat in Ludwigshafen Teile seiner Ammoniak- und TDI-Produktion eingestellt.
- Bayer will ein Pflanzenschutz-Werk in Frankfurt schließen.
- Ineos zieht sich mit seiner Phenol-Produktion aus dem Ruhrgebiet zurück.
Ein klarer Trend: Die energieintensive Chemieproduktion wandert ab – oder wird in Teilen schlicht eingestellt.
Politik ohne Durchgriff
Die Bundesregierung und die Länder Sachsen und Sachsen-Anhalt hatten in den vergangenen Monaten intensive Gespräche mit Dow geführt – teils unter direkter Beteiligung von Bundeskanzler Friedrich Merz. Man bot Entlastungen bei Energie und Investitionshilfen an. Vergeblich.
Der Fall Dow zeigt exemplarisch, dass staatliche Hilfszusagen in einem globalen Markt allein nicht ausreichen. Strategische Industriepolitik gerät an Grenzen, wenn Standortfaktoren dauerhaft unattraktiv bleiben.
Ein Rückschritt mit historischer Tiefe
Dow war nach der Wende als Symbol amerikanischer Investitionen in Ostdeutschland gefeiert worden. Seit der Übernahme der ehemaligen DDR-Kombinate 1995 hatte der Konzern Milliarden in die Modernisierung der Werke investiert. Nun zieht sich einer der größten ausländischen Investoren ausgerechnet aus einem der modernsten Standorte zurück.
Was bleibt, ist ein mulmiges Gefühl in einer Region, die erneut um ihre industrielle Zukunft bangen muss.
Sozialverträglicher Abbau?
Dow kündigte an, einen „formalen Konsultationsprozess“ mit den Betriebsräten zu starten. Man wolle „sozialverträgliche Lösungen“ für die 550 betroffenen Mitarbeiter finden. Auch die Gewerkschaft IGBCE warnt jedoch, dass diese Schließung nur der Anfang sein könnte.
„Wenn der Cracker fällt, fallen viele mit“, sagte IGBCE-Chef Michael Vassiliadis.
Fazit: Europa verliert weiter an Industriekompetenz
Mit der Dow-Schließung beschleunigt sich der Abstieg eines europäischen Kernsektors. Die chemische Industrie galt einst als Rückgrat des Industrie- und Exportstandorts Deutschland. Heute wird sie zum Bauernopfer von Energiepolitik, globalem Preisverfall und politischer Überregulierung.
Die Bundesregierung wird Antworten liefern müssen. Sonst könnte die Verbundchemie in Deutschland bald Geschichte sein.