EU mahnt Regulierungsexzess ab
Nachdem Jean-Claude Juncker im November 2014 die Präsidentschaft der EU-Kommission übernahm, hat sich diese einiges vorgenommen – mehr Transparenz und Bürgernähe, weniger Bürokratie und eine für den gesunden Menschenverstand nachvollziehbare Regulierungs-Politik. Wer die Verstrickungen der Kommission in Lobby-Interessen kennt (hier haben wir darüber berichtet) und außerdem um die viel zu weit reichenden Kompetenzen dieser demokratisch nicht legitimierten Körperschaft weiß, der mag eine wirkliche zwar Reform bezweifeln (ich tue es).
Nichtsdestotrotz hat die Kommission im Mai 2015 eine Agenda veröffentlicht mit dem Titel „Bessere Regulierungen für bessere Resultate“ („Better regulation for better results“), in der verschiedenste Optimierungen der EU-Regulierungsbemühungen auf allen Ebenen angekündigt und die Mitgliedsstaaten zu deren Unterstützung aufgefordert werden.
Der „Midas Touch“
Eine heftige Kritik von Seiten der Kommission, wenn auch so diplomatisch wie möglich formuliert, betraf das sogenannte „Goldplating“. Unter Goldplating versteht man die Praxis von EU-Mitgliedsländern, bei der Implementierung neuer EU-Gesetze weit über deren Vorgaben hinauszuschießen. Mit anderen Worten: EU-Richtlinien werden juristisch „vergoldet“, indem sie wesentlich restriktiver und ausgefeilter umgesetzt werden, als es dem EU-Wortlaut nach notwendig gewesen wäre. Natürlich erkennt die Kommission (und jeder Rechtsexperte) an, dass bei der nationalen Ratifizierung von europäischen Vorgaben Rücksicht genommen werden muss auf bestehende, landesbedingte Umstände. Doch um eine derartige individuelle Ausgestaltung geht es der EU-Kommission nicht.
Stattdessen findet Goldplating nach Definition durch Politikwissenschaftler zum Beispiel dort statt, wo: ein neues Gesetz über den EU-Rahmen hinaus auf andere Ziel- oder Produktgruppen, Umstände oder Anforderungen ausgedehnt wird (bezeichnet als „scope extension“); die resultierenden Beeinträchtigungen von Interessengruppen nicht weitestgehend vermieden werden; bereits bestehende, nationale legislative oder bürokratische Praxis lediglich ins Gewand der neuen Gesetze gehüllt wird, auch wenn diese ihr inhaltlich eigentlich widersprechen; der Implementierungszeitraum entweder so früh oder so spät gewählt wird, dass dadurch allen Interessengruppen Nachteile entstehen (na, schwant dem Leser da schon was im Bezug auf die E-Zigarette?)
EU-Kommission warnt Mitgliedsstaaten eindeutig vor den Folgen des Goldplating
Im genauen Wortlauft mahnt die Agenda an: „Mitgliedsstaaten gehen bei ihrer nationalen Implementierung oft über das hinaus, was von der EU-Legislative grundsätzlich gefordert wird. Dies kann zwar Vorteile mit sich bringen, aber es kann auch zu unnötigen Kosten für Unternehmen und öffentliche Behörden führen, deren Entstehung dann fälschlicherweise der EU-Legislative zugeschrieben wird…wir mahnen deshalb Mitgliedsstaaten dringend an, ungerechtfertigtes Goldplating der EU-Regeln zu unterlassen, wenn diese in nationales Recht übersetzt werden…Mitgliedstaaten sind dazu aufgerufen, die Gründe für dieses Goldplating offenzulegen.“
Den Gesetzesentwurf zur deutsche Ratifizierung der neuen EU-Tabakdirektive, also den „Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Tabakerzeugnisgesetzes“ vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, kann man in diesem Kontext nur mit Schutzbrille lesen, so geblendet sind die Augen vor lauter Goldglanz.
Ich glaube nicht, dass es in der aktuellen Rechtsprechung eine weitere EU-Gesetzesimplementierung gibt, auf die der Begriff „Goldplating“ in so umfassenden Maße zutrifft wie auf die kommende Regulierung der E-Zigaretten und E-Liquids in Deutschland. Und dass, obwohl besonders der Bundesregierung das Goldplating-Problem deutlich vor Augen geführt wurde – bereits 2013 hat die Bundesregierung unter dem Stichwort „Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“ an einem Workshop zu diesem Thema teilgenommen, aus dem die neben stehende Infografik hervorging.
Eindeutiger Beweis: Das TPD ist nur die Fassade des bundesdeutschen Alleingangs
Die sowieso schon zu restriktive und teilweise sinnfreie, neue EU Tobacco Products Directive dient der Bundesregierung nur als Schafspelz, um ein deutlich extensiveres Regelwerk zu legitimieren. Wie bereits jetzt im Hinblick auf die Unterschiede in der Umsetzung des TPD in beispielsweise Deutschland und England zu sehen, findet hier mitnichten eine Harmonisierung statt.
Natürlich hat die EU-Kommission ihre eigenen Gründe, warum sie exzessives Goldplating abmahnt. Diese reichen von der Angst vor dem Machtverlust bis hin zu Lobbyisten gegebene Versprechen, die dann von der nationalen Praxis wieder torpediert werden. Doch hiervon abgesehen, ist die Regulierung der E-Zigarette in Deutschland nicht nur ein moralischer Schlag ins Gesicht, sondern auch juristisch nicht über die Gesetzeshoheit der EU abgedeckt.
Jeder Politiker, der dieses neue Gesetz, wie es im Moment bekannt ist, als „europäisch“ vorgegeben und deshalb leider, leider nicht anders gestaltbar behauptet, lügt.
Und wie von der EU vorher gesehen, werden durch das neue Gesetz eine komplette, mittelständische Branche vernichtet und Gesundheitsersparnisse in Höhe von Milliarden Euro verschenkt. Stattdessen werden die Tabakkonzerne, die jahrzehntelang am wissentlichen Vergiften von Milliarden Menschen stinkreich geworden sind, durch das neue Gesetz nicht etwa an Macht verlieren, sondern ihre Monopolstellung noch festigen können.
2016 wird das Jahr der Wahrheit – und sie wird hässlich sein
2016 wird gleichzeitig das Jahr sein, in dem einerseits die TPD-„Ratifizierung“ greift und in dem andererseits alle fünf großen Tabakkonzerne (Philip Morris, Japan Tobacco, BAT, Imperial Tobacco und Reynolds American) ihre E-Zigaretten-Großoffensive auf dem deutschen Markt starten werden.
Alle Geräte der Tabakmultis entsprechen bereits den Vorgaben des neuen, deutschen Gesetzes. Mittelständler stehen im Gegensatz dazu im kommenden Jahr vor einer Kostenlawine: Bereits auf dem Markt befindliche E-Zigaretten haben meist nur noch bis November 2016 Zeit, auf die neuen Anforderungen umgerüstet zu werden – die sie aber schlimmstenfalls erst im Mai 2016 veröffentlicht werden. Zudem müssen alle ihre neu entwickelten Geräte ebenfalls Zulassungsverfahren durchlaufen, deren Parameter die Unternehmen wiederum, erraten, erst 2016 erfahren werden.
Zufall oder kalkuliertes Auslöschen kleiner und mittelständischer Betriebe?
Nimmt man nun diese verschiedenen Fakten zusammen, dass nämlich das neue E-Zigaretten-Gesetz
• Goldplating in schon absurdem Maß darstellt, also nicht von der EU „gefordert“ wird
• im vorhandenen Rechtsrahmen wesentlich feinfühliger, intelligenter und nachhaltiger hätte ausgestaltet werden können
• klar die Industrie unterstützt, die für das zu lösende Problem substanziell verantwortlich ist
• eine gesund wachsende Branche ausradieren und Arbeitsplätze vernichten wird
• die inzwischen wissenschaftlich eindeutig bewiesenen Chancen von Millionen auf eine Verbesserung ihres Gesundheitszustandes wissentlich reduziert bis minimiert
• dem deutschen Gesundheitssystem in Folge weiterhin massive, rauch-bedingte Kosten auflädt
dann muss die Frage wieder einmal (und weiterhin, bis zur Erschöpfung) gestellt werden: Warum?
Das Sparsamkeitsprinzip
In der Wissenschaftstheorie gibt es das sogenannte Sparsamkeitsprinzip, auch als Ockhams Rasiermesser bekannt. Es kann dabei helfen, für einen Sachverhalt eine Erklärung zu finden, indem es die folgende Formel vorschlägt: Gibt es für einen Zusammenhang mehrere Hypothesen, dann tendiert die einfachste dazu, auch die beste und vor allem die wahrscheinlichste zu sein. Einfach ist eine Theorie dann, wenn sie möglichst wenig Variablen benötigt, um eine Antwort zu liefern und diese Variabeln logisch auseinander schlussfolgern.
Das Zustandekommen der neuen deutschen Regulierung der E-Zigarette ist ein Mysterium, aus oben genannten Gründen. Es widerspricht gängiger, legislativer Praxis, ist ein Affront gegen das Grundgesetz, volkswirtschaftlich betrachtet eine Katastrophe, schwächt den Gesundheitssektor und ist ein moralisches Armageddon. Mit einem Wort: Es ist in jeder nur denkbaren Hinsicht unlogisch. Legt man nun Ockhams Rasiermesser an dieses Mysterium an, gibt es nur eine einzige Erklärung, die (ironischerweise) alle Voraussetzungen des Sparsamkeitsprinzips erfüllt: Geld.
Nun ist „Geld“ eine zwar simpel klingende, aber keineswegs einfache Antwort.
Sie kann stehen für Steuern, nämlich jene, die zu erheben nur eine Gleichstellung von Tabakzigarette und E-Zigarette möglich macht.
Sie kann stehen für die verlorenen Umsätze und gefährdeten Arbeitsplätze, die die Tabakindustrie während ihrer Lobbyeinsätze geltend gemacht haben wird – was zu einer gesetzlich verschriebenen Marktbereinigung führen wird, die letztendlich nur die Produkte der Tabakindustrie überleben lässt.
Sie könnte auch stehen für Gelder, die an den richtigen Stellen an die richtigen Menschen geflossen sind. Damit meine ich nicht Politiker; sondern eher bürokratische Zulieferer, Wissenschaftler und Medienmenschen. Sie haben durch die Verbreitung falscher, unvollständiger und reißerischer Informationen ein Klima des Misstrauens gegenüber der E-Zigarette geschaffen, dem sich Entscheider auf der Suche nach der „richtigen“ Regulierung nicht entziehen konnten. Eine derartige Flut an mangelhaften Daten ohne eine solide Bezahlung der Multiplikatoren durch interessierte Parteien ist eigentlich nicht denkbar.
Die einzige akzeptable andere, „sparsame“ Antwort ist: ideologische Verbohrtheit. Beide werfen ein unerträgliches Licht auf unsere Legislative. Deshalb ist das neue Gesetz zur Regulierung der
E-Zigarette nicht nur für Dampfer und Raucher entscheidend. Es durchgehen zu lassen, würde bedeuteten, eine von den falschen Motiven geleitete Gesetzgebung zu tolerieren. Diese jedoch sollte jeder Bürger fürchten; denn sie fängt mit Goldplating an, ist aber zum in jedem Fall unschönen Ende hin völlig offen.
Weiterführende Links
COMMUNICATION FROM THE COMMISSION TO THE EUROPEANPARLIAMENT, THE COUNCIL, THE EUROPEAN ECONOMIC AND SOCIALCOMMITTEE AND THE COMMITTEE OF THE REGIONS
Bundesregierung: Clarifying Gold Plating: Mitigating Barriers to Trade in the Single Market
Weitere Themen
Warum die EU sich blind, taub und stumm gegenüber begründeter Glyphosat-Kritik zeigt
Steckt die EU-Kommission mit Glyphosat-Herstellern unter einer Decke?