Wenn Demokratien den Kampf um Technologie, Geschwindigkeit und Narrative verlieren
…verlieren sie auch die Kontrolle über ihre Zukunft
Eine Analyse über Macht, Chaos und die neue Allianz der Autokraten und Tech-Eliten.
Der italienisch-schweizerische Politologe Giuliano da Empoli beschreibt in seinem neuen Buch „Die Stunde der Raubtiere: Macht und Gewalt der neuen Fürsten“ eine Welt, in der autoritäre Politiker und Technologie-Magnaten ein gefährliches Bündnis eingehen. Was wie eine düstere Fiktion klingt, ist für da Empoli eine präzise Diagnose unserer Gegenwart: Wenn Demokratien den Wettlauf um Technologie, Geschwindigkeit und Narrative verlieren, verlieren sie ihre eigene Zukunft.
Die alte Ordnung zerfällt
Über Jahrzehnte galt die liberale Demokratie als unerschütterlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien sie zur globalen Norm zu werden – Regeln, Institutionen, Menschenrechte. Doch diese Epoche war, wie da Empoli sagt, eine historische Ausnahme. Heute kehrt das zurück, was wir zu überwinden glaubten: rohe Macht, Gewalt, Manipulation.
Demokratien verlieren ihre Selbstverständlichkeit – und ihre Geschwindigkeit.
Die neuen Raubtiere
Da Empoli spricht von „Raubtieren“, die sich vom Chaos ernähren. Zu ihnen gehören Trump, Putin, Xi Jinping – und auch die Giganten der Tech-Welt wie Elon Musk und Mark Zuckerberg. Sie teilen ein Ziel: die Abschaffung von Regeln, die ihre Macht begrenzen.
Diese neue Allianz aus Populismus und Technologie verändert die Spielregeln. Die einen attackieren Institutionen von außen, die anderen unterwandern sie von innen – durch Plattformen, Algorithmen, Datenmacht.
Geschwindigkeit als neue Ideologie
In den digitalen Demokratien des 21. Jahrhunderts hat sich ein gefährliches Prinzip etabliert: Tempo ersetzt Wahrheit.
Was zählt, ist nicht mehr, ob eine Entscheidung gut durchdacht ist – sondern ob sie sofort kommt. In der Politik führt das zu impulsiver Symbolpolitik, in den Medien zu Dauererregung, in den sozialen Netzwerken zu Eskalation.
Donald Trump verkörpert diesen Wandel: Er agiert ohne Filter, im Sekundentakt. Die Folge: Reflex schlägt Reflexion. Demokratien, die auf Diskussion beruhen, geraten so in einen strukturellen Nachteil.
Technologie als unsichtbare Macht
Die großen Plattformen haben die Bühne der Öffentlichkeit übernommen. Algorithmen bestimmen, welche Themen dominieren, welche Meinungen verstärkt, welche Stimmen ausgeblendet werden.
Da Empoli vergleicht das mit der Erfindung der schweren Artillerie im 16. Jahrhundert: Damals zerbrachen die Mauern der Städte – heute zerbricht das Vertrauen in Fakten.
Eine einzelne Lüge, verstärkt durch soziale Medien oder KI-Bots, kann Millionen erreichen, bevor die Wahrheit überhaupt ausgesprochen ist. So verlieren Demokratien das, was sie ausmacht: die Fähigkeit zum gemeinsamen Gespräch.
Europas gefährlicher Stillstand
Europa sieht zu. Es reguliert, analysiert, vertagt – während andere handeln. Weder militärisch, noch technologisch oder kommunikativ ist der Kontinent souverän.
Da Empoli warnt: „Europa drohen Erniedrigung und Demütigung.“ Die EU muss aufhören, auf Silicon Valley zu reagieren, und anfangen, eigene digitale und ethische Standards zu setzen. Sonst bleibt sie das, was sie schon geworden ist – eine wohlhabende, aber ohnmächtige Provinz im Reich der neuen Neros.
Der Kampf um das Narrativ
Demokratien leben von ihren Geschichten: Freiheit, Gleichheit, Fortschritt. Doch diese Narrative sind erodiert. Populisten bieten einfache Feindbilder, Tech-Eliten den Traum grenzenloser Effizienz.
Wer das Narrativ verliert, verliert die Deutungshoheit – und damit seine Identität. Denn Politik ist längst kein Kampf um Territorien mehr, sondern ein Kampf um Aufmerksamkeit und Emotionen.
Was jetzt geschehen muss
- Regulierung als Schutz der Freiheit – nicht als Feind der Innovation.
- Digitale Souveränität Europas – eigene Plattformen, eigene KI-Standards, eigene Erzählungen.
- Neue politische Sprache – emotional, glaubwürdig, demokratisch.
Giuliano da Empoli fordert eine Rückeroberung der Zukunft: Denn wer die Menschen nicht mehr erreicht, überlässt sie den Lautesten.
Der letzte Appell
„Chaos ist die Waffe der Mächtigen“, schreibt da Empoli. Aber Ordnung kann Macht entfalten, wenn sie gerecht und klug ist.
Die Zukunft der Demokratie entscheidet sich nicht in Parlamenten, sondern in Rechenzentren und Köpfen. Wer dort verliert, verliert alles.
Demokratien müssen lernen, schnell zu denken – ohne übereilt zu handeln.
Mutig zu sprechen – ohne zu hetzen.
Und Macht auszuüben – ohne sie zu missbrauchen.
Nur dann kann die Freiheit überleben, wenn das Zeitalter der Raubtiere beginnt.