England’s NHS verschreibt die E-Zigarette

Voke

…oder jedenfalls fast

Während wir in Deutschland froh sind, dass E-Zigaretten nicht als Medikamente eingestuft wurden (Entscheid des Oberverwaltungsgerichtes Münster aus 2013), sieht die Situation in England etwas anders aus. Wie verschiedene englische Zeitungen berichten, soll dort ab nächstem Jahr der Vaporizer „Voke“ auf Rezept von Allgemeinmedizinern verschrieben und über den nationalen Gesundheitsdienst NHS abgerechnet werden können.

Im November hat die zuständige „Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency“ die Voke als Therapeutikum vollständig lizensiert. Allerdings war eigentlich bereits seit September 2014 klar, dass das Produkt auf den Markt kommen würde. Damals hatte die Voke die erste Lizenzphase erfolgreich abgeschlossen.

Englische Zeitungsberichte zum Thema klingen, als ob die E-Zigarette mit dem pharmakologischen Ritterschlag der Voke den Sprung in die Legitimität geschafft hätte. Tatsache ist aber: Die Voke ist alles andere als eine
E-Zigarette. Mit dieser hat sie eigentlich nur das Füllmittel Nikotin gemeinsam. Alle anderen charakterisierenden Attribute der elektronischen Zigarette, wie Erhitzung des Liquids durch Strom, breite Aromenvielfalt und Stärkenvarianz des Liquids und angenehme Dampfentfaltung fehlen bei der Voke. Stattdessen ist sie eigentlich ein Inhalator: Sie wird durch die reine Zugkraft des Atems aktiviert, kommt deshalb ohne Batterie aus, entlässt keinen Dampf und schmeckt neutral.

Hersteller BAT und KindConsumer distanzieren sich von der E-Zigarette

Die Voke wird vom Tabak Multi BAT hergestellt und vermarktet. Auf die Unterschiede zur
E-Zigarette weist der Konzern explizit hin, nicht zuletzt durch aufwendige Infogramme. Betont wird dabei, dass die Vole keinerlei Hitze entwickelt und demzufolge auch keinen „second hand vapour“ entwickele, wobei das Unternehmen natürlich genau weiß, dass es so etwas wie Passiv-Dampf sowieso nicht gibt.

Auch ansonsten ist diese Informationskampagne eher eine gewollte und verfälschende Negativdarstellung der E-Zigarette. Sie erweckt den Eindruck, als gäbe es keine E-Zigaretten mit freiwillig regulierten, transparenten Herstellungsmethoden und Inhaltsstoffen. Stattdessen soll der Unique Selling Point der Voke die Tatsache sein, dass alle ihre Module und das Liquid in einer kontrollierten, staatlich abgesegneten Produktionsumgebung hergestellt werden – im Gegensatz zur beunruhigenden, riskanten Anarchie, die im zwielichtigen Gewerbe des Dampfens sonst so herrscht.

Unterschied

Dieser Duktus ist verständlich. Die Voke dampft weder – aufgrund der fehlenden Erhitzung des Liquid – noch schmeckt sie nach irgendwas. Mit anderen Worten: Sie macht keinen Spaß. Das darf sie ja auch nicht. Schließlich soll sie Medikament sein und kein Genussmittel und lediglich den Übergang darstellen zur Abstinenz für alle diejenigen, die einen Konsum-Stopp nicht ohne Nikotin-Umweg schaffen.

Noch ein Nikotinersatzprodukt von BigTobacco – musste das sein?

Voke ist keine BAT-Erfindung. Sie stammt aus dem Labor des Unternehmens Kind Consumer und wurde hauptsächlich von dessen Gründer Alex Hearn entwickelt, der sich mit seiner Firma auf Inhalations-Technologie konzentriert. Kind Consumer ging bereits 2010 eine Entwicklungs- und Lizenzvereinbarung mit der BAT-Tochterfirma Nicovations Ltd. (damals noch Nicoventures genannt) ein, aus der nun der für Verschreibung zugelassene „pharmaceutically regulated pulmonary nicotine inhaler“, also pharmazeutisch regulierte pulmonale Nikotin-Inhalator Voke hervorgegangen ist.

Warum Kind Consumer, deren Logo-Slogan lautet „Saving Lives, changing an industry“ (Leben retten, Branchen verändern), sich mit einem todbringenden Unternehmen zusammengetan hat, begründen sie selbst so: „Die Marketing-Reichweite der Nicovations Ltd. macht den Zugang zur entscheidenden, globalen Marktdurchdringung der Tabak-Risikominimierungs-Produkte von Kind Consumer möglich.“

Betriebswirtschaftlich betrachtet ist das fraglos richtig. Aber es stellt wieder mal die generelle Frage in den Raum: Bleibt mittelständischen Entwicklern von Harm Reduction-Technologien un Gesundheitsbehörden wirklich keine andere Wahl mehr, als mit eben jenen Big Playern der Zigarettenindustrie zusammenzuarbeiten, deren Produkte das zu beseitigende Problem überhaupt erst geschaffen haben? Ist es der moralisch einzig praktikable Weg, Mittel und Wegbereiter zu ignorieren, solange nur das Ziel erreicht wird?

Das ist keine rhetorische, sondern eine ernst gemeinte Frage, die sich der Weltmarkt für Konsumprodukte immer wieder stellen muss. Ein anderes Beispiel ist etwa die Formation der „Rainforest Alliance“, deren Philosophie die Kooperation statt der Boykott von Firmen wie Chiquita oder Starbucks ist – nach dem Motto: Wer mit dem Feind schläft, hat ihn zumindest in Sichtweite.

BAT & Co. sind die Gewinner – an allen Fronten

Natürlich ist BAT über Voke darüber hinaus längst selbst in den E-Zigarettenmarkt eingestiegen. 2013 habe sie die E-Zigarette Vype in England eingeführt. 2014 kamen der Vype eStick und der Vype ePen auf den Markt, 2015 gefolgt vom Vype eTank, einer mit Vype e-Liquid wieder auffüllbaren E-Zigarette.

Vype

Auch von der Vype behauptet BAT auf seiner Webseite, sie könne „eine entscheidende Rolle dabei spielen, die Auswirkungen des Tabakgebrauches auf die öffentliche Gesundheit abzuschwächen“ („They could therefore play a significant role in helping to reduce the public health impact of tobacco use“).

BAT fährt hier also eine zweifache Strategie: Sie bieten mit der Voke ein Produkt für Raucher, die eigentlich ganz vom Rauchen wegkomme wollen, dies aber nur über die graduelle Entwöhnung vom Rauchritual und dem Tabak schaffen. Und für alle, die weiterhin Nikotin konsumieren, aber den tödlichen Tabakcocktail hinter sich lassen möchten, haben sie alternativ eine echte E-Zigarette im Angebot.

Zusätzlich verfügt BAT über all das, was ein Mittelständler nicht mitbringt und was der vor ungewollter Ironie triefende Werbeprospekt „Harm Reduction“ der BAT-Group (siehe Link) so zusammenfasst: „Schließlich verstehen wir die Bedürfnisse unserer Kunden, verfügen über Weltklasse-Forschung- und Entwicklungsmöglichkeiten, haben robuste Produkt- und Qualitätsstandards, bedienen den globalen Markt und vermarkten unsere Produkte verantwortlich.“ Mit anderen Worten: “Wir verfügen über genügend Lobby-Power, um Regierungen dazu zu bewegen, uns an den Produkten verdienen zu lassen, die die von uns verursachten Schäden auf ein sozial-politisch erträgliches Maß herunterschrauben können“.
Blind

Sieht die englische Regierung wirklich keine andere Möglichkeit, als für ihr erstes, als zugelassenes Therapeutikum verschreibbares Nikotin-Inhalationsprodukt mit Big Tobbacco zusammen zu arbeiten?

 

Erwarteter Ansturm auf die Voke ist nicht unrealistisch…

Hinsichtlich des Erfolgs der Voke ist die Regierung so optimistisch, dass sie einen sofortigen Run auf das Produkt erwartet, sobald es 2016 erhältlich sein wird. Die voraussichtlichen Kostenwerden bei £20 pro Set sowie nochmals £10 wöchentlich für die Kartuschen liegen; £8.20 zahlen Patienten selber. Die NHS verspricht sich von der Verschreibung langfristig erhebliche Einsparungen für raucherbedingte Erkrankungen.

Mit dem Ansturm könnte die Regierung recht haben. Einer der entscheidenden Gründe, warum Raucher nicht auf E-Zigaretten umsteigen, ist das scheinbare Risiko unregulierter Geräte und Liquid. Nun wird ein Gerät von den Gesundheitsbehörden (also einer in vielen Augen glaubwürdigen Autorität) als unbedenklich eingestuft. Damit könnte die Skepsis vieler Raucher zumindest im Hinblick auf dieses eine spezifische Produkt ausreichend befriedet sein, um es mal auszuprobieren. Bei £8.20 kann man nicht viel falsch machen.

…doch was kommt danach?

Danach sind drei mögliche Szenarien denkbar. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Voke kein besonders befriedigendes Produkt; Dampf und Geschmack fehlen, der zigarettenähnliche Nikotin-Hit bleibt eventuell auch aus. Die Raucher, die mental bereits den Rauch-Stopp eingeleitet hatten, werden dieses Element des fehlenden Genusses vielleicht sogar begrüßen. Auch Methadon ist ja so konzipiert, dass es die körperliche Sucht befriedigt, ohne die psychisch abhängig machenden Glücksmomente zu bescheren.

Raucher, die allerdings enttäuscht sind von der Inhalations-Erfahrung, kehren entweder zum Rauchen zurück – oder sie sind „angefixt“ und nun bereit, auch unregulierte E-Zigaretten auszuprobieren, weil ihnen das Wegfallen der unangenehmen Begleiterscheinungen des Tabakrauchens ausgereicht hat, das „Risiko“ in Kauf zu nehmen.
Warum eigentlich der ganze Aufwand?

Die Frage ist allerdings, warum diese komplizierten Schritte überhaupt notwendig sein sollen. Längst haben experimentierfreudige Stopp-Smoking-Beratungsstellen die auf dem freien Markt erhältlichen E-Zigarette in ihre eigenen therapeutischen Empfehlungen integriert – und zwar mit Unterstützung der Regierung. Entsprechende Pilot-Versuche wurden in Leicester und Nord-Ost-England durchgeführt, als Bestandteil der kommunal finanzierten „Council Smoking Cessation Services“.
Ross
Louise Ross‘ Vortrag beim E-Cigarette Summit 2014

Sie waren außerordentlich erfolgreich. Louise Ross, Stopp Smoking Service Manager in Leicester, Leicestershire und Rutland, hat sich in Folge des Experiments zu einer der führenden, englischen
E-Zigaretten-Befürworterinnen entwickelt.

Zunächst war sie selbst skeptisch hinsichtlich der E-Zigarette: Sie sah mehr und mehr von ihr betreute Klienten zu Cigalikes (Einweg-E-Zigaretten) greifen und in Folge die Therapie abbrechen, weil sie eine für sich befriedigende und genussreiche Alternative gefunden hatten.

Ross besuchte daraufhin den ersten E-Cig Summit in London und hatte, wie sie selber sagte, einen „Erleuchtungsmoment“. Seit zehn Jahren im Rauch-Stopp-Service tätig, wurde ihr klar, dass hier zum Ende des Rauchens lag. „Mir wurde klar, wir mussten diese neue Technologie mit offenen Armen begrüßen. So könnten wir Menschen mit unserem Stopp Smoking Service unterstützen, die andernfalls niemals kommen würden.“

 

Öffentlich subventionierte E-Zigaretten-Empfehlungen funktionieren

2014 hat das englische National Centre for Smoking Cessation and Training (NCSCT) gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium eine ausgezeichnete Broschüre zum Einsatz von E-Zigaretten bei öffentlich subventionierten Rauchstopp-Programmen herausgegeben (siehe Link). In dieser Broschüre könnte ich persönlich jedes einzelne Wort unterschreiben. Die Risiken werden absolut korrekt umrissen, genauso wie die möglichen Vorteile und der Gewinn für die Gesundheit des Einzelnen beim Umstieg auf
E-Zigaretten.

Der Umstieg einschließlich der notwendigen Umstellung auf die unterschiedliche Nikotinverfügbarkeit wird detailliert erläutert und ein klares didaktische Konzept vermittelt, wie Mitarbeiter skeptische Raucher von den Vorteilen überzeugen können, die E-Zigarette auszuprobieren. Aktuelle Studien werden präzise und objektiv (und damit natürlich zugunsten der E-Zigarette) zusammengefasst. Nikotin wird beschrieben wie folgt: „Im Hinblick auf die Sicherheits von Nikotin gibt es überzeugende Beweise im Zusammenhang mit anderen Nikotinersatzprodukten, dass reines Nikotin für Raucher mit minimalen Gesundheitsrisiken verbunden ist.“ Auch Ross teilt diese Meinung: „Mein Ziel ist es, Menschen dabei zu helfen, tabak-frei zu werden, nicht nikotin-frei. Mir wird langsam klar, dass Langzeit-Nikotinkonsum sogar ein schützendes Moment darstellt, das Menschen in Krisenzeiten von dem typischen Rückfall ins Rauchen abhält.“

Anti-Tabak-Experten aus der Praxis sind gegen eine Verschreibung des Dampfens

In Gesprächen empfiehlt Louise Ross die E-Zigarette nicht direkt. Sie wartet darauf, dass der Klient diese selbst erwähnt, was ihrer Erfahrung nach so gut wie bei jedem Termin der Fall ist. Dass die
E-Zigarette nicht verschreibungspflichtig ist, sieht sie keinesfalls als Problem – so könne der Klient selbst entscheiden, für welches Modell er sich entscheiden wolle.

Hier gibt sie allerdings konkrete Anregungen: „Im Allgemeinen empfehlen wir, billige Einwegzigaretten zu vermeiden und sich für ein Produkt der zweiten Generation von einem zuverlässigen Verkäufer zu entscheiden, der einen guten Ruf zu wahren hat. Wir schlagen vor, dass unsere Klienten mit den Verkäufern über ihre Optionen sprechen und Empfehlungen von Freunden und aus dem Internet einholen.“ Auch hinsichtlich der Liquid-Aromen hat Ross eine dezidierte Meinung: „Unsere Klienten erzählen uns von einer weiten Bandbreite an Geschmacksrichtungen, die sie mögen – Früchte, Tabak, Kaffee; schon deshalb bin ich definitiv gegen eine Einschränkung der Aromenauswahl.“

Für Ross ist die Quintessenz ihrer Zeit als E-Zigaretten-freundlicher Rauchstopp-Beratung klar:
„Ich persönlich würde eine Entwicklung begrüßen, die weg geht von restriktiver Regulierung, Medikalisierung des Produktes und moralistischen Urteilen und hin zu einem echten Verständnis dafür, dass E-Zigaretten hochqualitative Konsumprodukte sein sollten, zugänglich für alle, die sie nutzen wollen. Dafür müssen wir miteinander reden. Als Berater müssen wir Rauchern und Dampfern zuhören, um dieses Szenario Wirklichkeit werden zu lassen. Menschen, die E-Zigaretten als Teil des Problems und nicht der Lösung sehen, sind Hindernisse auf dem Weg zu dieser Wirklichkeit.“

DoctorsFür Ärzte sieht die Welt allerdings etwas anders aus

Genau die Medikalisierung, die Ross verhindert sehen möchte, ist mit der Voke nun praktiziert worden. Allerdings spielt in die Gleichung auch eine Komponente mit hinein, die Ross unerwähnt lässt: Die Situation von Ärzten, die Raucher beraten. Für diese ist die Angelegenheit schon haftungstechnisch schwieriger – und sie begrüßen aller Wahrscheinlichkeit nach die Möglichkeit, Voke verschreiben zu können, als den Spatz in der Hand. Ob aber die gängigen E-Zigaretten den Job nicht viel besser erledigt hätten, werden sich auch viele Mediziner fragen.

Nun, die letzte Stunde für E-Zigaretten Hersteller hat zumindest offiziell noch nicht geschlagen. In einer öffentlichen Anhörung sagte die britische Gesundheitsministerin Jane Ellison wörtlich „Die Regierung ist davon überzeugt, dass Dampfen wesentlich weniger gesundheitsschädigend ist als Rauchen. Wir ermutigen alle Bewerbungen für medizinische Lizensierungen.“ Tatsächlich laufen bereits jetzt zahlreiche derartige Bewerbungsverfahren. Ob hierbei allerdings auch Produkte zugelassen werden, die Genuss bereiten, ist in meinen Augen fraglich.

Weiterführende Links
NCSCT electronic cigarettes
BAT E-cigarettes: A growing market with huge potential
BAT Harm reduction

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